Copyright Stefan Mueller-Naumann

© Stefan Mueller-Naumann

Interview mit Johannes Ernst, geschäftsführender Gesellschafter Steidle Architekten

2019 Leitung Fachgebiet Entwerfen und Wohnungsbau an der Technischen Universität Darmstadt
2018 - Mitglied Gestaltungsbeirat der Stadt Freiburg
2017 - Mitglied Beratergremium Werksviertel München
2017 - Lehrauftrag Grundlagen des Entwerfens an der Hochschule München, Fachbereich Entwurf und Konstruktion
2016 - 2017 Vertretungsprofessur an der Hochschule München, Fachbereich Städtebau
2013 Aufnahme in den BDA Bayern
2006 - 2007 Lehrtätigkeit an der Akademie der Bildenden Künste München mit Prof. Carlo Baumschlager
2005 Geschäftsführender Gesellschafter bei Steidle Architekten
2005 Gründung von Steidle Architekten Gesellschaft von Architekten und Stadtplanern mbH mit Hans Kohl, Johann Spengler, Martin Klein und Verena von Gagern-Steidle
2004 - 2006 Vertretungsprofessur im Aufbaustudiengang Architektur an der Akademie der Bildenden Künste München
2004 - Tätigkeit als Fachpreisrichter bei zahlreichen Wettbewerben
2004 Leitung Summer School am Politecnico Torino
2003 Leitung der Winterakademie an der Technischen Universität Hannover
2001 - 2004 Assistent an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Otto Steidle
1999 - 2005 Mitglied Gestaltungsgremium Theresienhöhe München
1998 - Vorträge u.a. in Ankara, Turin, Hannover, Köln, Leipzig, München und Berlin
1997 - 2005 Freier Mitarbeiter bei Steidle + Partner
1997 Diplom bei Prof. Kees Christiaanse und Prof. Matthias Sauerbruch
1993 - 1994 Fulbright Stipendium und Studium am Illinois Institute of Technology Chicago
1990 - 1997 Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin
1986 Abitur am Windeck-Gymnasium Bühl/Baden
1966 Geboren in Baden-Baden

1. Wie geht es Ihnen und Ihren Mitarbeitern in diesen Krisenzeiten?

Johannes Ernst: Das Virus kam abrupt und überraschend für uns alle, so, als wäre von einem Moment auf den anderen der Stecker gezogen worden. Ich erinnere mich, dass ich in der Woche vor dem Shutdown an vier bis fünf Orten in der Bundesrepublik zu Terminen unterwegs war. Und dann war plötzlich Stille. Im ersten Moment war es irritierend, im zweiten immer noch. Und im dritten Moment habe ich gespürt, was für eine Qualität diese Stille hat. Dank unseres kompetenten IT Mitarbeiters ist es uns sehr schnell gelungen, auf HomeOffice umzusteigen. Ein Drittel der Mitarbeiter ist weiterhin im Büro geblieben, die anderen zwei Drittel haben von zu Hause gearbeitet. Ich selbst war so viel im Büro wie schon lange nicht mehr, da die gesamte externe Tätigkeit entfiel. Insgesamt war und ist die Teamarbeit mittels ZOOM und anderer Portale eine großartige und interessante Erfahrung, wir haben hoch konzentrierte Projektbesprechungen geführt. Sehr schöne Erlebnisse waren auch meine abendlichen Jogs durch die leergefegte Stadt München, bei denen ich mit meiner Tochter die Sightseeing Routen abgelaufen bin, manchmal ohne einem einzigen Auto zu begegnen. Die Ludwigstraße in München in absoluter Stille zu erleben ist etwas Unvergessliches, was wir wahrscheinlich nie wieder erleben werden.

2. Kann die Pandemie aus Ihrer Sicht eine Chance für unsere Baukultur sein?

Johannes Ernst: Ich wünschte, sie wäre eine Chance für die Baukultur. Ich zähle jedoch nicht unbedingt zu den Optimisten, die an einen bevorstehenden Reflexionsprozess glauben. Wie es aussieht, wird es gar keine Zeit zum Reflektieren geben. Wir sind ungeplant in die Krise hineingerutscht. Sie ist nichts Romantisches, sondern es geht zum Teil ums Überleben. Wir haben Projekte, die momentan nicht weitergeführt werden, haben aber fünfzig tolle Mitarbeiter und möchten absolut keinen von ihnen verlieren. Wir müssen schauen, wie wir uns auf der Projektebene entwickeln können. Es wird einen sehr harten Kampf um Aufträge auf dem Markt geben. Ich habe also nicht den Eindruck, dass die Krise zu einer Kultivierung führt, sondern eher zum Gegenteil.

In den letzten Jahren ist das mittlere Segment in Vergessenheit geraten. Man hat den Anteil an gefördertem Wohnungsbau hochgehalten und gleichzeitig den restlichen Teil im hochpreisigen Bereich bedient, so dass man Sozialwohnungen neben den fünfzehntausend Euro pro Quadratmeter Eigentumswohnungen hatte. Dazwischen gibt es kein Angebot und diese Lücke gilt es zu schließen.

3. Wir haben nach wie vor in Deutschland eine Wohnungsnot. Was braucht die Bauwirtschaft, um dauerhaft zusätzliche Kapazitäten aufzubauen?

Johannes Ernst: Dafür braucht man zunächst eine stabile wirtschaftliche Lage und eine politische Vorprägung, die den Wohnungsbau aus dem Bereich der Spekulation herausholt. Der ganze Wohnungsbau, abgesehen von den wenigen Städten, die sich in den letzten zehn Jahren noch im geförderten Wohnungsbau engagierten, diente weniger der Wohnraumschaffung als der Geldanlage. Ich habe es erlebt, dass Baugrundstücke in München innerhalb von einem Jahr einen dreifachen Wert durch zweimaligen Verkauf erzielten. Die Zeche dafür zahlt am Ende die breite Masse, die nicht mehr in der Lage ist, solche Wohnungen zu bezahlen. In unserer Gesellschaft gibt es einen hohen Anteil an Mitbürgern, die aufgrund von Erbschaften oder guter geschäftlicher Situationen in der Lage sind, diese vollkommen überhöhten Preise zu zahlen. Das sind aber genau die zehn Prozent, die eigentlich keine Wohnung benötigen. Die anderen neunzig Prozent, die tatsächlich eine Wohnung brauchen, können diese Preise mit ihrem aus rechtschaffender Arbeit verdienten Geld nicht zahlen und infolgedessen nicht mithalten. Die Bodenfrage muss also dringend geregelt werden und es müssen Randbedingungen geschaffen werden, damit Wohnungsbauten gegen die Wohnungsnot und nicht für die Spekulation geplant und gebaut werden. Diesbezüglich gibt es ja bereits 02 INTERVIEW MIT JOHANNES ERNST verschiedene Vorschläge. Wir Architekten sind keine Politiker, dennoch haben wir ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung und Know-how, was wir einbringen müssen. Entscheidend ist also, dass die Gesellschaft an der Wertsteigerung der Grundstücke teilhat, und zwar zum Beispiel im Rahmen von Bebauungsplanverfahren oder Bewilligungen nach Paragraf 34, wo aus gewerblichen Nutzbereichen Wohnbereiche entstehen. In den letzten Jahren ist das mittlere Segment in Vergessenheit geraten. Man hat den Anteil an gefördertem Wohnungsbau hochgehalten und gleichzeitig den restlichen Teil im hochpreisigen Bereich bedient, so dass man Sozialwohnungen neben den fünfzehntausend Euro pro Quadratmeter Eigentumswohnungen hatte. Dazwischen gibt es kein Angebot und diese Lücke gilt es zu schließen. Wir brauchen dringend eine Förderung von Mietwohnungsbau durch größere institutionelle oder große private Bauherren, um Mietwohnungen in einem Preissegment zur Verfügung zu stellen, die auch von Krankenschwestern zu finanzieren sind. Auch der Genossenschaftswohnungsbau und der kommunale Wohnungsbau sollten einen viel größeren Anteil einnehmen. Es gibt also im Wohnungsmarkt eine Menge an Instrumentarien und Möglichkeiten. Wir planen derzeit ein super interessantes Projekt im Münchener Werksviertel, bei dem ein Privatunternehmer zwei große Baufelder mit dem Ziel bebaut, eine gesellschaftlich relevante Schnittmenge zu erreichen. Man merkt in der Kalkulation allerdings relativ schnell, dass es eng wird, und deshalb ist eine Förderung äußerst wichtig.

4. Ist Wohnungsnot nicht ein immer wieder kehrendes Phänomen? Wir wurden bereits öfter damit konfrontiert.

Johannes Ernst:Meines Erachtens hat man die Stadt in den letzten Jahren zu günstig für zu schwache Argumente von der Gegenseite verkauft. Zum Teil mussten sich die Investoren nicht besonders anstrengen, um von den Kommunen großzügig behandelt zu werden. Allerdings sollte man auch bedenken, dass das Thema Wohnungsnot in der Stadt so alt ist wie die Stadt selbst. Genauso wie es auch zur Stadt gehört, dass es teure und günstigere, verdichtete und offenere Bereiche gibt. Das macht Stadt aus. Wenn man sich die Entwicklung unserer mitteleuropäischen Städte anschaut, stellt man fest, dass die im achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert stattgefundene Bevölkerungsexplosion viel größer war als das, was wir jetzt erleben. Dies führte zum Mietskasernenbau und am Ende zur Entwicklung der Moderne. Die Menschheit stellt sich also immer selbst vor Herausforderungen und beim Thema Stadt auch immer wieder vor die gleichen. Es ist ein schon immer existierendes Phänomen. Deswegen sollte man auch stets zurückblicken und schauen, wie die Probleme früher gelöst wurden.

Wir brauchen dringend eine Förderung von Mietwohnungsbau durch größere institutionelle oder große private Bauherren, um Mietwohnungen in einem Preissegment zur Verfügung zu stellen, die auch von Krankenschwestern zu finanzieren sind. Auch der Genossenschaftswohnungsbau und der kommunale Wohnungsbau sollten einen viel größeren Anteil einnehmen.

5. Bis Ende der Legislaturperiode 2021 sollen bundesweit 1,5 Millionen neue Wohnungen gebaut werden. Jetzt verzögert Corona die Prozesse, Bauanträge dauern womöglich doppelt so lange. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Johannes Ernst: Das ist interessant, ich habe eine andere Aussage von der Leitung der Lokalbaukommission in München erhalten. Sie raten gerade jetzt zur Einreichung von Bauanträgen, weil momentan wegen zeitlicher Engpässe nur grob geprüft werden kann. Ich glaube zwar selbst nicht wirklich daran, aber das war tatsächlich die Aussage. Von dem Ziel, 1,5 Millionen Wohnungen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig zu stellen, halte ich nichts. Es kommt letztlich nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. Ich baue lieber nur eine Million Wohnungen, dann aber die richtigen und für die Richtigen, statt mich an idiotischen Zahlen zu orientieren, die aus einer unergründlichen Melange aus politischem Willen und Statistik entstanden sind. Die Krise gibt uns vielleicht jetzt eine Chance, konstruktiver über das nachzudenken, was wir wirklich brauchen. Wir sollten die Politik so beraten, dass sie ihre Baugenehmigungen im Sinne der Entstehung von sinnvollem Wohnraum beeinflussen. Wenn die Lokalbaukommission nur begrenzte Kapazitäten hat, sollte man die gesellschaftlich relevanten und verantwortungsvollen Projekte in der Bearbeitung bevorzugen.

6. Sie erwähnten Ihre besondere Expertise im Bereich Forschung und Wissenschaften. Fließen in Ihre Planungen durch die Krise gemachten Erfahrungen ein?Die Krise zeigt deutlicher denn je, dass die meisten Wohnungen den Bedürfnissen ihrer Bewohner nicht mehr gerecht werden. Sehen Sie die Krise als Chance, neu über den Wohnungsbau nachzudenken?

Johannes Ernst: Die Siebziger Jahre waren die letzten, in denen man mit experimentellen Wohnungsgrundrissen gearbeitet und sich verändernde familiäre und gesellschaftliche Zusammenhänge reflektiert hat. Mit Einzug der Postmoderne hat man sich davon entfernt, die Verpackung war dann das Wichtige, weniger der Inhalt. In Phasen größter Wohnungsnot entwickeln sich die Preise radikal nach oben, selbst der letzte Mist lässt sich zu Höchstpreisen verkaufen. Das führt zu einem Käuferwettbewerb um die wenigen Wohnungen, die überhaupt noch zu bekommen sind, selbst wenn sie unbrauchbare Grundrisse haben. Es gibt eine ganz einfache Regel: man kann mit Wohnungen, die den höchsten Quadratmeterpreis erzielen, am meisten verdienen. Um ein möglichst breites Feld abzudecken, hat man die Wohnungen so klein wie möglich gehalten, um den Multiplikator Wohnfläche möglichst gering, dafür aber den Multiplikator Preis pro Quadratmeter möglichst hoch zu halten. Das führt zu Zweizimmerwohnungen mit 42 Quadratmetern. In diesen Wohnungen ist man kaum in der Lage, einen Brief zu öffnen, weil jeder Quadratmeter mit den Mindestanforderungen belegt ist. Es muss uns durch geschickte Förderungspolitik gelingen, Wohnungen 03 grohe.de zu schaffen, die unser gesellschaftliches Spektrum abbilden. Und wir Architekten müssen uns in eine Position bringen, dass wir unsere Qualitäten nicht in der reinen Optimierung der Wohnflächenbilanz und der Systematisierung der Wohnprojekte vergeuden. Ich selber habe mit drei Kindern eine große Familie, wir bräuchten eine Fünf- bis Sechszimmerwohnung. Solche Wohnungen haben wir als Architekten jedoch in den letzten Jahren nicht mehr gebaut. Das Maximale, was sich ein Investor heute vorstellen kann, ist eine Vierzimmerwohnung mit hundert Quadratmetern. Multipliziert man diese hundert Quadratmeter mit einem durchschnittlichen, derzeit aufgerufenen Preis von zehntausend Euro pro Quadratmeter, kostet eine solche Wohnung eine Million Euro. Das muss man sich einmal vorstellen. Wobei groß nicht gleich gut bedeutet. Gerade unsere Vorväter der klassischen Moderne haben auch mit kleinen Wohnraumzuschnitten hohe Qualitäten erzeugt. Genau da müssen wir wieder ansetzen.

Die Krise gibt uns vielleicht jetzt eine Chance, konstruktiver über das nachzudenken, was wir wirklich brauchen. Wir sollten die Politik so beraten, dass sie ihre Baugenehmigungen im Sinne der Entstehung von sinnvollem Wohnraum beeinflussen. Wenn die Lokalbaukommission nur begrenzte Kapazitäten hat, sollte man die gesellschaftlich relevanten und verantwortungsvollen Projekte in der Bearbeitung bevorzugen.

Johannes Ernst
Steidle Architekten, München

ZUM KOMPLETTEN INTERVIEW

Inspirationen

Tauchen Sie ein in die Welt von GROHE und lassen Sie sich von unseren Produkten inspirieren.

Referenzen

Von 250 Bowery bis zum Sri Panwa Vichit:
So setzen Top-Architekten GROHE-Produkte in ihren Projekten ein.

Fachbroschüren und Reportagen

Entdecken Sie die Vielfalt der GROHE Welt in unseren Fachbroschüren und Objektreportagen.